In welcher Welt leben wir?
Gewohnt, Informationen zu erhalten, vergessen wir allzu leicht, dass informieren zunächst bedeutet, zu formen, Gestalt zu verleihen.
Die Welt verlangt danach, gekontert zu werden, sagt die Dichterin Ilse Aichinger.
Was uns angeht, umgibt und betrifft verstehen wir erst im Laufe fortgesetzter Interaktion, das erweist sich bei jeder Tätigkeit: bei körperlicher, handwerklicher, bäuerlicher Arbeit, Seefahrt ebenso wie bei den kühnsten künstlerischen und wissenschaftlichen Unternehmungen.
Für unsere Vorfahren war der Kosmos greifbarer Beweis für eine verläßliche und ewige Ordnung. Seit der Entdeckung der Evolution und den Umwälzungen der modernen Physik befinden wir uns in einer Welt in ständigem Wandel, im Kleinsten wie im Größten verschränken sich Erschaffung und Vernichtung.
Sind wir nun Spielball namenloser Kräfte, oder ist es vielmehr erst recht von Bedeutung, ob und wie wir handeln?
Meinten wir noch, einsam zu sein in einem gleichgültigen Universum, in dem das Auftauchen des Menschen eine höchst unwahrscheinliche Randerscheinung darstellte, mag uns jetzt der Schwindel erfassen, wenn wir ahnen, dass unser Tun und Lassen den Ausschlag geben könnten.
Wenn es durchaus von Belang ist, wie wir uns an allem Geschehen beteiligen, wie vermögen wir dieser Verantwortung gewachsen zu sein?
Welche Kräfte gilt es zu entwickeln, angesichts der Aufgabe, als die uns nun die Wirklichkeit begegnet?
DIE WAHRHEIT LIEGT RUNDHERUM
(…) Ich bin nicht nur überzeugt, daß das, was ich sage, falsch ist, sondern auch das, was man dagegen sagen wird. Trotzdem muß man anfangen, davon zu reden; die Wahrheit liegt bei einem solchen Gegenstand nicht in der Mitte, sondern rundherum wie ein Sack, der mit jeder neuen Meinung, die man hineinstopft, seine Form ändert, aber immer fester wird. (…)
in: Robert Musil Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste [1922]
EXPERIMENTALSYSTEM SCHREIBEN
(…) Das Schreiben, so behaupte ich, ist selbst ein Experimentalsystem. Es ist eine Versuchsanordnung. Es ist nicht nur ein Aufzeichnen von Daten, Tatbeständen oder Ideen. Es ist auch nicht einfach der billige Ersatz für die lebendige Rede. Es ist nicht einfach das transparente Medium der Gedanken. Es gibt den Gedanken eine materielle Verfassung – und zwar eine, die das Entstehen von Neuem ermöglicht. (…)
Hans-Jörg Rheinberger